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Zwoisy Mears-Clarke / Jamar Roberts / Joana Tischkau

Hall of Videodances Part 5: Going Viral

Info

Die jeweiligen Video-Tänze werden hier kostenlos verfügbar und bis 07. März abrufbar sein. Mit dem Ticketlink können Sie ein freiwilliges Festival-Ticket für 5, 10, 20 oder 30 Euro kaufen.

Vergangene Termine

Der Begriff Videotanz etablierte sich im westlichen, zeitgenössischen Tanz der 1980-er Jahren, um Arbeiten zu beschreiben, die nicht für die Bühne gemacht, sondern mit der damals neuen Videotechnik explizit für die Kamera produziert wurden. Zahlreiche Choreograf:innen hatten bereits davor viele Experimente mit der Kamera gewagt, wie Maya Deren zum Beispiel. Später wurde der amerikanische Choreograf Merce Cunningham einer der prägenden Choreograf*innen dieses neu entstehenden Genres. Gemeinsame Techniken des Films und des Tanzes, wie Montage, Rhythmus und Tempo bilden die Grundlage für Formen des Videotanzes, die andere Perspektiven auf den Tanz eröffnen und auch neu definieren, wo er stattfindet und wie er vermittelt. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Demokratisierung durch digitale und soziale Medien und letztlich auch in Corona-Zeiten, in denen Choreograf:innen nach neuen hybriden Formaten für den Tanz suchen, hat sich der Videotanz durch CGI-Technik oder Mittel der Augmented Reality, die auf der Bühne nicht zur Verfügung stehen, ästhetisch wie politisch weiterentwickelt. Seit den ersten Experimentalfilmen bis heute hat die Synthese von Tanz und Film in einer Vielzahl unterschiedlicher Formate Ausdruck gefunden und dem zeitgenössischen Tanz nicht zuletzt auch zu Popularität verholfen. Der als Video existierende Tanz stellt außerdem Fragen nach Reproduktion, Autor*innenschaft, Eigentumsrechten an Choreografien, kultureller Aneignung und der Politisierung von Tanz.

Der FOKUS TANZ #7 stellt bereits existierende und für das Festival neu produzierte Videotänze gegenüber und lässt sie miteinander in Schwingung treten.

Going Viral

Das Jahr 2020 und die globale Pandemie haben dem Video als choreografischen Mittel eine starke Bedeutung gegeben: Videotanz wurde für Viele zu einem Mittel, Gemeinsames über die Distanz hinweg zu schaffen, Tänze und Choreografien zu erlernen und weiterzugeben. Zu einem Mittel der Kommunikation. Zu einer Möglichkeit, schnell viel Sichtbarkeit zu erhalten, in einem ungewissen Prozess der Verselbstständigung. Das Video als Mittel der schnellen Verbreitung, der Viralität, und oftmals gleichzeitig der Emanzipation und Politisierung. Die Verschränkung von Choreografie und Diskurs durch das Medium Video hat gerade in der Situation von Isolation und globaler politischer Notsituation große Bedeutung getragen. Wir stellen die These einer diskursiven Aufladung des Genres auf! Zum letzten Tag des digitalen Fokus Tanz zeigen wir Videotänze, die im Kontext der Covid19-Pandemie entstanden sind und explizit oder implizit, diskursiv oder ästhetisch, auf diese außergewöhnliche Produktionssituation verweisen.

Jamar Roberts: Cooped (2020)

5 Min.

Artist-Statement: «Zu der Arbeit haben mich die kürzlich veröffentlichten Statistiken inspiriert, aus denen die überdurchschnittliche Anzahl Schwarzer und Brauner Körper ersichtlich wird, die von der Covid19-Krise betroffen sind. Ich kreiere in der Videoarbeit einen schöpferisch kraftvollen Fiebertraum, der die Furcht vor Krankheit, den Angstzustand der Quarantäne einfängt – und zwar in Verbindung zu dem historischen Trauma Schwarzer Körper, die zum Leben in engen Räumen verbannt wurden und werden. Die Aufforderung zur Selbstquarantäne überschneidet sich mit der bereits bestehenden politischen Quarantäne Schwarzer und Communities of Color – eine Krise innerhalb der Krise. Sie hat zur Folge, dass diese Communities den Auswirkungen der Pandemie besonders schutzlos ausgesetzt sind. Über hunderte von Jahren hinweg, seit der Ankunft auf amerikanischem Boden, war der Schwarze Körper Auslöser starker Kontroversen. Tief in der amerikanischen Gesellschaft verankerte Systeme der Unterdrückung haben psychische, emotionale und körperliche Gewalt auf den Schwarzen Körper und innerhalb des Schwarzen Körpers ausgeübt. Ich will meinen eigenen Körper benutzen, um einer Gruppe von Menschen, die oft ungehört und ungesehen bleiben, Sichtbarkeit zu geben. Diese Demonstration des tanzenden Schwarzen Körpers lässt nicht nur einen Blick ins Innere marginalisierter Menschen in einer sehr spezifischen Krise zu, sondern ist außerdem ein Testament ihrer Kraft, Schönheit und Resilienz.»

Jamar Roberts ist der Resident Choreograf des Alvin Ailey American Dance Theater. Roberts ist seit 2002 Tänzer der Kompanie und hat drei Werke für die Kompanie geschaffen, die alle von der Kritik gelobt wurden: MEMBERS DON'T GET WEARY (2016), ODE (2019) und AJAM SESSION FOR TROUBLING TIMES (2020). Jamar Roberts hat sein Werk mit dem Titel GEMEOSON AILEY II vertont und ist ein Absolvent der New World School of the Arts und der Ailey School. Roberts wurde 2016 mit dem Bessie Award for Outstanding Performer ausgezeichnet und trat als Gastkünstler mit dem Royal Ballet in London auf. Er erhielt Aufträge von Juilliard, dem New York City Ballet, dem March on Washington Film Festival, dem 2020 Virtual Fall for Dance Festival und für Works and Process am Guggenheim, wofür die gefeierte Kurzfilmarbeit COOPED entstand.

Zwoisy Mears-clarke & Venuri Perera: Porcelain White: The Conversation (2020)

30 Min.

Die Länder Sri Lanka und Jamaika standen beide über Jahrhunderte unter kolonialer Besatzung und gewannen 1948 bzw. 1962 ihre Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft. Venuri Perera und Zwoisy Mears-Clarke, beide in einer ehemaligen Kolonie Großbritanniens geboren, teilen ein «weiß gezeichnetes» Erbe. Beide sind in der englischsprachigen Mittelschicht aufgewachsen, die bestimmte von den ehemaligen Kolonialherren übernommene Praktiken beibehalten hat. In ihrem Film untersuchen sie ihre Komplizenschaft in Wort und Choreografie und versuchen, die Komplexität und Grenzen ihrer ererbten Privilegien zu entwirren. Gleichzeitig verkörpern sie dabei durch Video und Tanz und auf Grund der Corona-Pandemie eine Form der Kommunikation, die ihre geografische Distanz einbezieht.

Zwoisy Mears-Clarke versteht sich als Choreograf*in der Begegnungen. Zwoisy nutzt das Potenzial des Tanzes, um Formen der Unterdrückung wie Neokolonialismus, Sexismus und Ableismus sichtbar zu machen und um Begegnungen zu ermöglichen, die unter anderen Umständen unmöglich wären. Aktuell liegt Zwoisys Lebensmittelpunkt in Rösrath, NRW. Venuri Perera ist Choreografin und Performancekünstlerin aus Colombo. Ihre Arbeit setzt sich mit gewaltvollem Nationalismus, Patriarchat, Grenzpolitik und Machtdynamiken von Blicken auseinander. Sie interessiert sich für die Macht der Verletzlichkeit sowie für mögliche Voraussetzungen für Empathie.

Joana Tischkau: Colonastics Part I-iii: Bavarian Warm Up / Techno Drill / Rockout (2020)

In genau diesem Augenblick werden Sofas und Küchentische zur Seite geschoben, um Platz für Yogamatten und Hantelbänke zu schaffen. Schlafzimmer verwandeln sich in Trainingsparcours und Teppiche in Gewichthebestationen. Im Mittelpunkt dieser neu erfundenen Lebenswelten in Zeiten der Quarantäne steht der Gedanke, dass man aus dieser Situation als stärkere, fittere und bessere Version des eigenen Selbst hervorgehen kann; der moderne Mythos des unbegrenzten und dauerhaften Fortschritts. Ganz gleich, ob das Training im sicheren Raum des neu geschaffenen Home Gyms oder im Studio stattfindet – eines haben die Trend-Sportarten wie Yoga, Zumba, Poledancing und Breakletics gemeinsam: Ihr Vokabular, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit simplifiziert, entspringt einem imaginären esoterischen und exotischen Raum und kopiert die Körperlichkeit, der als das »Anders« konstruierten. Joana Tischkau fordert in ihrem Workout Colonastics ebenfalls dazu auf, Platz für eine schweißtreibende Trainingseinheit zu schaffen, mit der Körper, Seele und Geist von den Spuren der Kolonialisierung befreit werden. Los geht es mit einem Körpertraining, das sich aus der reinen Verkörperung des Weißseins entwickelte. Ausgehend vom Ideal des weißen Mannes, bringt Colonastics die kolonialen und neokolonialen Praktiken der Fitnessindustrie ans Licht. Denn möglicherweise kann man am Ende alles haben: Die Rationalität des heterosexuellen weißen Mannes und die Körperlichkeit und Leiblichkeit der Schwarzen Frau.