Daniel Dominguez, ein junger, weißer Mann mit dunklem, vollem Bart und Locken, trägt eine moderne Brille mit transparentem Rand und einen dunklen Mantel. Er ist vor einem braunen Hintergrund seitlich zur Kamera gedreht und blickt ernst.
© Jonas Fischer
Daniel Dominguez, ein junger, weißer Mann mit dunklem, vollem Bart und Locken, trägt eine moderne Brille mit transparentem Rand und einen dunklen Mantel. Er ist vor einem braunen Hintergrund seitlich zur Kamera gedreht und blickt ernst.
Dialog

[K]onversations mit Daniel Dominguez Teruel

Der Komponist und Musiktheaterregisseur Daniel Dominguez Teruel feierte mit seiner Arbeit LOVESONG 2021 beim Hamburger Festival Hauptsache Frei eine umjubelte Premiere und wurde anschließend mit einer Einladung zum Impulse-Festival geehrt. Auf Kampnagel zeigt er nun LOVESONG noch einmal in Kombination mit seiner neuen Arbeit VOICES, die thematisch anschließt. Seine Kompositionen wurden u. a. auf der Electronic Music Week Shanghai oder dem Musica Viva Festival in Lissabon aufgeführt und er realisierte Konzerte und Installationen in Paris, Barcelona, New York und Hamburg. 2013 wurde er mit dem 1. Preis beim Internationalen Festival für elektroakustische Musik in Jekaterinburg ausgezeichnet. Kampnagel-Dramaturgin Anna Teuwen hat ihn zu seiner Arbeit an »akustischen Denkmälern« befragt.

Lieber Daniel, wie kann man einem Denkmal zuhören, und was interessiert Dich daran?

Klassische Denkmäler sollen die Zeit überdauern, sie wiegen unter Umständen mehrere Tonnen und sollen auch nicht bewegt werden. Sie sind Markierungen, die eine Gesellschaft vornimmt, die »für immer und ewig« bestehen bleiben sollen. Diese Denkmäler kann ich betrachten, fotografieren, tasten, spüren, aber sie sind stumm. Es gibt auch Denkmäler, die sich durch ihre zeitliche Begrenztheit, Flüchtigkeit, und dadurch, dass sie weder sichtbar, tastbar oder stumm sind, erst definieren. Ich bezeichne sie als akustische Denkmäler.

Zum Beispiel Nationalhymnen?

Nationalhymnen sind besonders interessant, weil ihre durchschnittliche Dauer lediglich eineinhalb Minuten beträgt. Sie sind sehr kurz, symbolisch werden sie aber wie klassische Denkmäler behandelt und wiegen schwer. Akustische Denkmäler muss ich immer und immer wieder anhören. Ich finde daran den Aspekt der Wiederholung interessant, weil sich ihr Wesen jedes Mal aufs Neue nur über das aktive Zuhören in Echtzeit erschließt. Für mich ist das eine besondere Form des Aufspürens und Ahnens sowie der Aufmerksamkeit und Sensibilität. Unser Hörsystem ist ein wahnsinnig präzises Messinstrument, das geringste Druckschwankungen der Luft registrieren kann. Hier würde ich dann zwischen technischem und kulturellem Hören unterscheiden wollen. In diesem Sinne kann ich mich auch den klassischen Denkmälern über das Hören nähern, obwohl oder gerade, weil sie stumm sind.

Eine andere aktuelle Forschungsfrage von Dir lautet »What to listen to when everything is melting« – was schmilzt da eigentlich?

Mit »schmelzen« meine ich Beschleunigung, Unsicherheit, Überforderung und Chaos, aber auch Umbruch und Neuanfang. Das ist ein Gemisch aus Gefühlen, die sich mir die letzten Jahre vermittelt haben, durch die Corona-Pandemie, Protestwellen unterschiedlichster Art, Kriege, Hunger, Erderwärmung. Abgesehen von Corona alles Dinge, die omnipräsent sind, aber die Verbindungen und Zusammenhänge sind deutlich spürbarer, vielleicht wie nie zuvor, und wir fühlen uns massiv überfordert. Das macht Angst, denn wir wissen nicht, wie wir all diese Probleme lösen sollen und verlieren den Halt. In Bezug auf die Erderwärmung ist das »Schmelzen« sehr konkret. Das Polareis und Gletscher sind auch eine Art Denkmäler, Monumente, die bis zu Millionen Jahre alt sind und mit ihrem Verschwinden gleichermaßen einen radikalen Umbruch und auch Zerstörung, markieren.

Und was hat das für Dich mit dem Hören zu tun?

Das Hören fungiert in diesem ganzen Chaos für mich als eine Art Orientierungspunkt und Fokussierung. Damit meine ich nicht von dem Chaos weghören, sondern das Gegenteil: hineinhören. In Bezug auf Nationalhymnen bedeutet »schmelzen« für mich, aus dem Singen heraus mit der Nation zu verschmelzen und eins mit ihr zu werden. In diesem Sinne schmilzt die eigene Individualität und Identität mit, das eigene Selbst löst sich auf. Und ich glaube, dass diese Art des (Ver-)Schmelzens keine gute Idee ist.

LOVESONG dreht sich ja um die deutsche Nationalhymne – ist der Titel ironisch gemeint?

Nein. Ich benenne damit eher die Hass-Liebe, die die deutsche Gesellschaft mit der Hymne verbindet. Das von Teilen der Gesellschaft geliebte, akzeptierte oder geduldete und von anderen Teilen verhasste Lied. Es ist eine Art »verdammtes« Lied, weil die deutsche Gesellschaft sich nicht davon trennen kann. Eine ungesunde Abhängigkeit, fast eine Art toxische Beziehung. Ich verstehe die Hymne als ein Symptom einer tiefen deutschen Identitätskrise, die nichts neues ist – kleindeutsch, großdeutsch, hyperdeutsch, Ost-/West-deutsch, migrationshintergrund-deutsch usw.

Wie ist es mit Hymnen anderer Länder?

Fast alle Nationalhymnen klingen nach europäischen Musikklischees in ihrer Harmonik und Instrumentierung, was sie gewissermaßen austauschbar macht. Das hat unter anderem mit europäischem Kolonialismus zu tun. Und in den Texten wird in der Regel eine Liebe zum Vaterland besungen, die so groß sein soll, dass man dafür sogar sterben und andere Menschen, die nicht zu dieser Schicksalsgemeinschaft gehören, ermorden würde. Das ist eine kranke Fantasie über Liebe. Aber das ist die Forderung, die Nationen mittels ihrer Hymnen an ihre Bürger*innen stellen. Und da ist es egal, ob, wie im Fall der deutschen Hymne, die vergleichsweise recht unblutiges Vokabular benutzt, »nur« die ersten beiden Strophen von den Nazis gesungen und instrumentalisiert wurden und die dritte, aktuelle, sozusagen »unschuldig« sei. Der Kern bleibt derselbe und vermittelt sich unausgesprochen über die bis heute beibehaltene Melodie als auditives Trauma. Und als kleiner Fun-Fact: Die Melodie stammt von der monarchistischen Hymne für Kaiser Franz II. (heutiges Österreich), von Haydn komponiert. Der hat sie wiederum bei einem Dorffest im alten Burgenland (heute Kroatien) aufgeschnappt.

LOVESSONG hast Du in der Kesselhalle des Kraftwerk Bille aufgeführt, wo Du auch schon andere Arbeiten realisiert hast. Du sagtest einmal, dass Du Deine Arbeiten am liebsten so planst, dass Du nicht einmal eine Steckdose brauchst.

Im Kraftwerk Bille gibt es keinen Strom, kein elektrisches Licht. Nur vereinzelte Anschlüsse und man muss alles an Infrastruktur mitbringen. Was ich meinte, ist, dass das Kraftwerk einen zwingt sich überlegen zu müssen, ob man überhaupt mit Strom arbeiten möchte, denn die Konsequenz davon können hunderte bis kilometerlange Kabelwege bedeuten, Lautsprecher fünf Stockwerke hoch- und wieder runtertragen, denn der Aufzug funktioniert natürlich auch nicht. Es ist ein unglaublicher Aufwand.

Was ist Dir wichtig in Bezug auf den Aufführungsort?

In den letzten sieben Jahren hatte ich die Möglichkeit, kontinuierlich im Kraftwerk Bille zu arbeiten. Ich habe dort viel gelernt und meine Produktionen von Grund auf anders konzeptioniert in Bezug auf die Fragen: Brauche ich wirklich Strom, oder Stühle, wenn ja, welche Art von Stühle usw.? Das hat mir auch künstlerisch geholfen, zu reduzieren, zu präzisieren. Generell arbeite ich ortsspezifisch und recherchiere immer den Kontext des Aufführungsortes, um besser zu verstehen, inwieweit bestimmte Arbeiten noch einen Dreh benötigen.

Apropos Kontext, Du warst ja auch in der Elbphilharmonie zu Gast…

Ja, 2019 habe ich dort im Rahmen der HALLO: Festspiele und des Internationalen Musikfests das »Requiem for Architecture« aufgeführt. Eine Klanginstallation auf dem Vorplatz und eine Performance auf der Plaza der Elbphilharmonie. Die Klanginstallation war eigentlich die long durational Performance einer acht Meter großen, aufblasbaren grünen Taube, die vor dem Eingang den Vorplatz besetzte. Aus ihr zu hören war ein Subbass-Puls ähnlich eines Herzschlags, Tag und Nacht, eine Woche lang. Nachts wurde sie von innen beleuchtet und von Securities bewacht. Die Performance auf der Plaza begann mit dem Lied »Kennst du das Land wo die Zitronen blühen«, gesungen von einer Opernsängerin (Jessica Gadani) und begleitet von einem Pianisten (Christian Jovanov) am Flügel. Währenddessen fuhr eine goldene aufgeblasene Taube Fahrrad auf der Plaza, hat dann die beiden Musiker*innen mit einem riesigen grünen Tuch verdeckt, tanzte auf dem Flügel und hat so gewissermaßen die Plaza besetzt. Die Performance endete damit, dass die Sängerin die deutsche Nationalhymne gurrte und das Publikum Fan-Gesang-ähnlich mitgurrte.

Worum ging es Dir dabei?

Der Hintergrund dazu ist folgender: Tauben werden von der Elbphilharmonie instinktiv angezogen, weil sie sie an steile Küstenfelswände erinnert. Und damit sie dort nicht heimisch werden und durch ihren Kot die Bausubstanz beschädigen, wurde auf der Plaza ein akustisches Taubenabwehrsystem installiert, mittels eines Tons im Ultraschallbereich. Der Mensch markiert mit diesem Tempel des Hörens und dem als »Haus für Alle« politisierten Bauwerk europäischer Hochkultur sozusagen sein Territorium. Auch die Elbphilharmonie fungiert als Denkmal. Mit seiner Fertigstellung hat aber jedes noch so monumentale Gebäude seinen Zenit erreicht und unterliegt dem natürlichen Prozess des Verfalls. Die Tauben würden diesen Prozess lediglich beschleunigen, weswegen versucht wird, die Elbphilharmonie zu konservieren. Das Gurren der Taube wurde für mich zur Arie eines symbolischen Requiems für diese Architektur, wir trauern ihrem Verfall bereits voraus.

Auch in LOVESONG treten Tauben auf – was haben Stadttauben mit nationalen Symboliken zu tun?

Ich betrachte Tauben als Anarchistinnen. Ich fand sie schon immer faszinierend, einfach aus dem Grund, dass der Mensch, zumindest in den meisten westlichen Kulturen, versucht sie von sich und seinen Bauten fernzuhalten. Und das, obwohl die Geschichte der Taube untrennbar mit der Geschichte menschlicher Zivilisation verbunden ist. Diese ständige Ausgrenzung scheint sie aber nicht im geringsten aus der Ruhe zu bringen. Sie besetzt weiterhin Plätze, Fensterbänke und anderes. Ganz egal, welche Nation oder Symbolik. Anders gesagt und aus deutscher Perspektive: die Taube ist der bessere Adler.

Im Rahmen der Uraufführung Deiner neuen Produktion VOICES zeigen wir auf Kampnagel auch eine Wiederaufnahme von LOVESONG. Wie hängen die beiden Arbeiten für Dich zusammen?

Während es in LOVESONG um die deutsche Nationalhymne im konkreten geht, macht VOICES eher eine grundsätzliche Frage auf: Was ist das für eine Verabredung, sich als Demokratie auf ein einziges Lied als Hymne festzulegen und wer hat dieses Lied überhaupt ausgewählt? Es geht um Repräsentation, und darum, in was für einem Verhältnis ich als Individuum zum Rest dieser Gruppe namens Nation stehe.

Du arbeitest dafür mit 50 Sänger*innen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds…

Mich beschäftigt dabei eine ganz simple Frage: wie klingt es, wenn 80 Millionen bzw. 7 Milliarden Menschen ihre persönlichen Hymnen bzw. Lieblingslieder gleichzeitig und übereinanderlagernd singen? Im besten Falle wären Millionen bzw. Milliarden unterschiedliche Lieder gleichzeitig zu hören. Ein großartiges Chaos, ein Rauschen und Labyrinth, durch das ich gerne driften würde. Das finde ich im ästhetischen Sinne dann wiederum interessant, weil sich die Kriterien für das, was ich als Kakophonie, Dissonanz, Harmonie, Schönheit usw. empfinde, zwangsläufig verschieben. Und das zwingt mich, meine eigenen Vorstellungen und Kategorisierungen zu hinterfragen und upzudaten. Für mich ist in diesem Prozess vor allem spannend, diese ganzen unterschiedlichen Stimmen in Form von Klangfarben und Liedern zuzulassen und ihnen einfach nur zuzuhören. Im Sinne der kosmischen Perspektive vom Detail der deutschen Hymne weit raus zu zoomen, um dann wieder weit rein zu zoomen ins Detail jeder einzelnen Stimme.

Kampnagel ist nicht das Kraftwerk Bille, und auch nicht die Elbphilharmonie – welches Publikum wünschst Du Dir?

Das Kraftwerk Bille und die Elbphilharmonie könnten nicht weiter voneinander entfernt sein, im kulturellen und ästhetischen Sinne. Das Kraftwerk ist ein verlassener, kulturloser Ort der kultiviert werden möchte, d.h. dort haben theoretisch erstmal beliebig viele unterschiedliche Kulturen Platz. Die Elbphilharmonie ist hingegen, wie der Name schon sagt, eine Philharmonie: im konventionellen Sinne bürgerlich. Sie ist im Grunde zu Ende kultiviert und ehrlicherweise so, dass nur eine einzige Art von Kultur dort wirklich vorgesehen ist, nämlich die Kulturpraxis der europäischen klassischen Musik. Ich habe nichts dagegen – mich faszinieren Museen und sie sind sehr wichtig – aber die Elbphilharmonie ist eben auch keine Produktionsstätte der Zukunft, in der visionäre Praktiken kultiviert werden könnten. Und das ist, was wiederum das Kraftwerk Bille rund um den HALLO: e.V. und andere Akteure hätte werden können, wenn die Stadt Hamburg diese sehr verheißungsvolle Spielfläche nicht den üblichen Investoren überlassen hätte.

Kampnagel scheint mir in diesem Spannungsfeld eine Art Brücke zu beiden Orten zu bilden. Hier ist es zumindest nicht unrealistisch, dass ein Publikum einer sogenannten Hochkultur und das Publikum eines sogenannten Undergrounds aufeinandertreffen und sich mischen können. Und das empfinde ich besonders in der Auseinandersetzung mit der deutschen Nationalhymne für notwendig und richtig.