Liebe Gäste,
was die Zukunft betrifft, stellt
der berühmte Science Fiction Autor William Gibson („Neuromancer“) klar:
ihm gehe es in seinen Büchern nicht um Voraussagen oder Spekulationen,
sondern um die „Temperatur der Gegenwart“. Science Fiction ist für
Gibson ein literarischer Werkzeugkasten, um eine immer verrückter
werdende Gegenwart zu beschreiben. Wenn wir uns nun – als ein ästhetisch
und inhaltlich in der Gegenwart tummelndes Festival – mit der Zukunft
beschäftigen, liegt die Dystopie auf der Hand. Denn darin werden
die katastrophalen Zustände in der Zukunft immer als direkte Folge
unseres Handelns im Jetzt beschrieben. Was aber auch heißt, dass wir die
absehbare Hölle theoretisch jetzt noch verhindern könnten.
Das gilt für kein Thema so sehr, wie für den Klimawandel, der alle aktuellen Fragen der Menschheit von Ernährung bis Migration umfasst, und eine ganze nachfolgende Generation nicht nur freitags gegen VW & Co in Stellung bringt. Die Pflichtlektüre dazu für alle denkenden (und vor allem lebenden) Menschen hat der amerikanische Autor David Wallace-Wells geschrieben: Sein Buch „Die unbewohnbare Erde“ erscheint kurz vor Festivalstart auf Deutsch und ist eine wegweisende Zusammenfassung von Fakten und wissenschaftlichen Hypothesen zur Erderwärmung. Wallace-Wells wird darüber auf dem Festival bei der Konferenz des Investigativ-Journalisten Hannes Grassegger sprechen, außerdem ist der Klimawissenschaftler Mojib Latif mit einem Vortrag zu Gast. Dass Dystopien immer auch große Bilderzählungen sind, durch die wir die Zukunft begreifen, zeigen uns der belgische Theater-Ikonoklast Kris Verdonck mit einer neuen großen Bühnenarbeit und der frisch berufene Berlinale-Programmchef Mark Peranson mit einer Filmreihe zum Thema. Vielleicht werden die Gottesanbeterinnen – wie auf dem Cover dieses Programmhefts – die letzten sein, die durch das Wurmloch der post-humanen Schöpfungsgeschichte springen. Insekten sind aber auch die ersten Erschöpften der Erderwärmung. Gut also, dass der Einzelhandelsriese Walmart gerade Roboter-Bienen patentiert hat, Gott ist eh ein Technologe aus dem Silicon Valley, und auch der Mensch hat bald ewigen Urlaub. Oder muss zumindest nicht mehr selbst auf der Bühne stehen, wie der deutsche Bestseller-Autor mit bipolarer Störung, Thomas Melle. Der wird in Rimini Protokolls beeindruckendem Theaterstück nämlich von einem humanoiden Roboter ersetzt – durchaus als positives Zwischenmensch-Beispiel aus Körper und Maschine. Vielleicht müssen wir auch einfach größer in die Zukunft denken, wie der große Zukunftsdenker Stephen Hawking, der angesichts der Zerstörung der Erdatmosphäre damit rechnete, dass wir zum Überleben andere Planeten kolonisieren müssen. Dass bei der Menschheitsgeschichte der Kolonisierung eventuell die Außerirdischen auch einen Ton mitzusingen haben, zeigt quietschbunt SPACE – THE 3RD SEASON, der dritte Teil der hinreißenden Puppen-Musical-Serie in großer Besetzung von Josh „Socalled“ Dolgin. Und wer nicht auf Elon Musks Pläne zur Mars-Expedition warten will und trotzdem abenteuerwild ist, kann im August mit den JAJAJAs in andere Sphären abheben, oder mit dem Musik-Virtuosen Kid Koala einen gemeinsamen Trip in SATELLITE-Umlaufbahnen buchen. Dessen Stück ist relativ sicher für die ganze Familie geeignet, was für einen Besuch im Museum der norwegischen Gruppe Susie Wang nicht gilt: Im Horror-Illusionstheater MUMIENBRAUN ist auf der Bühne eine Ausstellung mit einem schwarzen Loch und außerirdischen Objekten zu sehen, welche die schwangere Museumsbesucherin besser nicht angefasst hätte. Das Stück ist Teil von Susie Wangs Horror-Trilogie über das menschliche Verhältnis zur Natur und den weiblichen Körper. Wie stark, facettenreich und schillernd der in Zukunft aussehen kann, zeigt die feministische Pop-Ikone Peaches, die seit 20 Jahren gesellschaftliche Machtverhältnisse in Frage stellt, und eine von insgesamt acht Festival-Uraufführungen präsentieren wird (von denen zum ersten Mal drei für die große Halle K6 produziert werden): In ihrem Bühnen-Varieté mit fast 40 Beteiligten entwirft Peaches eine (weniger dystopische) Vision für die Zukunft des Feminismus. Außerdem zeigt die queere Kunst-Pionierin ihre erste institutionelle Einzelausstellung im Kunstverein, und präsentiert ein Rahmenprogramm mit VaudevilleEntertainment für alle und vier Club-Abenden, die zeigen, dass es sich auch ohne #MeToo-Patriarchat lustvoll feiern lässt.
Clubs sind ja häufig geschützte Keimzellen für gesellschaftliche Veränderungen und sichere Orte für junge Menschen und Queers auch in repressiven Systemen. So auch der legendäre Club Bassiani in der georgischen Hauptstadt Tiflis, wo brutale Polizei-Razzien 2018 europaweit Solidaritätsbekundungen und Proteste auslösten. Darüber, und über Tanz als Medium friedlichen Widerstands, geht es in MARRY ME IN BASSIANI des französischen Medienkunst-Kollektivs (LA)HORDE, einer spektakulären Bühnenüberwältigung zur Festivaleröffnung in der K6 mit 15 ehemaligen Tänzer*innen des georgischen Nationalballetts. (LA)HORDE, die gerade zum neuen Leitungs-Trio des Tanz-Flaggschiffs Ballet de Marseille ernannt wurden, bespielen außerdem die riesige Kampnagel-Vorhalle mit einer Live-Art-Installation über Widerstand und Affirmation. Eines von vielen Beispielen für den erweiterten Kunstbegriff dieses Festivals. Die Impulse, die durch die Überschneidungen der Genres entstehen, werden auch in der Zusammenarbeit der kanadischen Choreografin Aszure Barton mit dem Musiker Hauschka Bühnenfunken sprühen lassen: Barton, die weltweit die alte Tante Tanz radikal verjüngt, wird mit Hauschka und einem großen Ensemble für ihre Festival-Weltpremiere WHERE THERE’S FORM zwei Monate in Hamburg proben. Diese und weitere Uraufführungen, wie mit Carsten „Erobique“ Meyer über das unterbelichtete popkulturelle Erbe der 70er Jahre DDR-Musik, oder Neu-Entdeckungen wie die vermummten russischen Performer von Vasya Run sind nur möglich durch großartige Unterstützer*innen und Kooperationspartner*innen: In der Elbphilharmonie spielen die drei Kampnagel-Kompliz*innen Soap&Skin, Chilly Gonzales, der auch ein enger Peaches-Komplize ist, sowie das Aarhus Symfoniorkester mit dem Bell Orchestre. Bei letzterem spielt Richard Reed Parry mit, den wir zusätzlich mit einem immersiven Konzert im Hamburger Planetarium in der Reihe NEW INFINITY mit den Berliner Festspielen präsentieren. Wie immer steckt noch viel mehr Wahnsinn im Festivalprogramm, klicken Sie sich durch!
Die Rakete steht bereit, wir heben jeden Abend im Space-Avant-Garten mit Migrantpolitan & Co ab und landen nachts im Club (bei einem ausgedehnten Programm von japanischem Psych-Rock bis zur Avantgarde-Legende Charlemagne Palestine. Ein großer Dank an alle, die uns bis hierher vertraut und unterstützt haben und an Sie, die mit uns in die Zukunft fliegen werden.
Bis gleich,
András Siebold & das Sommerfestival-Team