Liebes Publikum,
jetzt, wo es zumindest hier mehr Geimpfte als Problem-Masken vom Bundesgesundheitsminister gibt, ist ein Ende der Pandemie vorstellbar und das nächste Sommerfestival in Sicht: Das Programm ist online – und alles andere als eine Virus-Schmalspurversion. Mit dem Rückenwind aus dem vergangenen Jahr (wo wir bereits ein komplettes Sommerfestival auf sichere Beine gestellt hatten), haben wir stoisch weiter geplant und Lockdowns, Erschöpfung und alles was mit „Home" beginnt ausgehalten. Geholfen haben uns Künstler*innen, die aus der Krise heraus Kunst machen und Perspektiven für die Zukunft entwerfen. Von solchen Positionen ist dieses Festival geprägt, das wir hier in 1686 Wörtern zusammenfassen.
Los geht’s am 4. August mit einer Weltpremiere der kanadischen Popmusikerin (Leslie) Feist. Ihr brach wie allen Musiker*innen durch das Virus wörtlich die Bühne weg. Also schrieb Feist neue Songs und dachte über den Weg zurück auf die Bühne nach, gemeinsam mit dem Bühnenbildner Rob Sinclair (der auch David Byrnes AMERICAN UTOPIA entwarf, das wohl genialste inszenierte Konzert der vergangenen Jahre). MULTITUDES heißt nun das Ergebnis und ist Feists Angebot an das Publikum, gemeinsam und achtsam im intimen Rahmen mit ihr und neuen Songs die Bühne zurück zu erobern. Communal joy! Togetherness, wie auf den Festival-Plakaten steht. Der Gemeinschaft der Lebenden stehen aber, besonders in der Pandemie, die Verstorbenen gegenüber. An die erinnert Kyle Abraham mit REQUIEM: FIRE IN THE AIR OF THE EARTH in so mitreißender Weise, dass klar wird, warum er zu den aufregendsten US-amerikanischen Choreografen gehört: Abraham wechselt zwanglos aus der Ballett-Pose in den HipHop-Move und wirft eine explizit Schwarze Perspektive auf die Gegenwart – und auf den Klassiker der westlichen Trauermusik: Mozarts REQUIEM. Die Totenmesse erklingt hier beeindruckend neu in einer futuristischen Version der Club Music Avantgardistin Jlin. Das Lacrimosa aus dem REQUIEM, gewissermaßen Mozarts musikalisches „Licht am Ende des Tunnels“, tönt auf dem Festival vorher noch aus der Apotheke: gesungen als eine Art Leitmotiv in Christoph Marthalers neuer Theaterinszenierung DAS WEINEN (DAS WÄHNEN) nach Texten des Schweizer Künstlers Dieter Roth. Mit einer Apotheke als Bühnenbild ist es das Stück der Stunde bzw. „Marthaler at his best“ (DLF). Es ist auch das Gipfeltreffen zweier Schweizer Künstler, die im Alltäglichen das Besondere finden, den Begriff Kunst erweitert und eine Achse zwischen Hamburg und der Schweiz gefestigt haben. Dieter Roth, der mit Schimmelbildern und Schokoladenskulpturen die Kunst des 20. Jahrhunderts geprägt und verändert hat, richtete vor seinem Tod ein ganzes Museum mit eigenen Arbeiten aus allen Schaffensperioden in einer Hamburger Villa ein. In diesem Dieter Roth Museum geht die Festival-Reise weiter: Wir haben ebenfalls interdisziplinär arbeitende Künstler*innen wie Annika Kahrs und Felix Kubin gebeten, sich mit dem Werk von Roth in Form eines Audioguides im Roth-Museum auseinanderzusetzen. Es ist eine pathosfreie Art des seelenvollen Humors, die Roth und Marthaler verbindet und die auch die Arbeiten des Schweizers Thom Luz prägt. Auf die Frage, wie er denn die oft beschriebene Gemeinsamkeit von seinen und Christoph Marthalers Arbeiten beschreiben würde, sagte Luz: „Immer, wenn etwas fehlt oder Sprache nicht ausreicht, wird gesungen.“ So ist das auch in seiner durchkomponierten Theaterinszenierung LIEDER OHNE WORTE, in der die Menschen Krisen und Unfälle mit Witz und sehr viel Musik überleben. Das Menschsein, es ist nicht einfach – aber einfacher zu bewältigen in Schweizer Mundart, wie uns die Supergroup Dino Brandão, Faber und Sophie Hunger mit ihrem Album ICH LIEBE DICH zeigt: "Ich ha probiert mich selber zsi, aber ich han g'merkt es isch de Horror" singt Faber mit melancholischer Selbstironie. Das Trio ist eine von vier Kooperationen mit und in unserer Nebenspielstätte am Hafen, der Elbphilharmonie (dort spielen außerdem unsere friends aus Nordamerika Martha und Rufus Wainwright, stargaze mit den Dirty Projectors und die türkische Musik-Avantgardistin Gaye Su Akyol).
Aber noch einmal zurück zur Mundart: In Bärndütsch verfasste Robert Walser sein Stück DER TEICH. Darin täuscht ein sich ungeliebt fühlender Junge seinen Selbstmord vor. Das Stück inszeniert die Theaterkunst-Spezialistin für seelische Abgründe, Gisèle Vienne, in der französischen Übersetzung mit deutschen Übertiteln – und einem sensationellen Schauspielerinnen-Duo: Ruth Vega Fernandez und Adèle Haenel („Porträt einer jungen Frau in Flammen“). Ein verstörend-beglückendes Kammerspiel, das sich auch als Kommentar auf die psychischen Belastungen von Familien in der Pandemie lesen lässt. Den Blick auf eine andere Spezies unter psychischer Belastung lenkt die norwegische Wenn-richtiges-Theater-dann-bitte-so-Gruppe, Susie Wang, mit ihrer neuesten Arbeit LICHT UND LIEBE: Hier sitzt ein deutsches Pärchen mit Sonnenbrand am Urlaubssehnsuchtssort ihrer Träume. Das geht in dem Ibsen-Preis nominierten Stück nicht lange gut und wird zur Parabel auf die Sehnsucht nach Urlaub, Exotik und Normalität in Zeiten der Pandemie. Dass diese Art des bitterbösen und von der Bildenden Kunst beeinflussten Theaters nichts für Fans von Im-Theater-Einschlafen ist, beweist auch Festival-Stammgast Miet Warlop: Sie zeigt mit AFTER ALL SPRINGVILLE eine Neu-Inszenierung eines ihrer größten Form- und Farbspektakel-Hits, mit denen sie seit einer Dekade die europäischen Bühnen erobert und Fans von laufenden Tischen und explodierenden Sicherungskästen glücklich macht. Da ist dann der Schritt zur echten Zauberei nur ein kleiner: Die gibt es bei uns mit Hamburgs Zauberer aller Zauberer, Manuel Muerte, unter dem einleuchtenden Stücktitel ILLUSIONEN. Ja, ja, we love to entertain you auch. Und deswegen verlassen wir jetzt das Festivalgelände und gehen ins Epizentrum des Entertainments, nach St. Pauli in den legendären Club Uebel&Gefährlich. Die österreichische Volkstheater-Guerilla Nesterval schreibt dort mit dem Kampnagel-Karaoke-Urgestein Queereeoké Thomas Manns Buddenbrooks in der informellen Subkultur weiter: SEX DRUGS & BUDD’N‘BROOKS ist ein aufwendiger, immersiver Theaterspaß, geeignet auch für Menschen, die Thomas Mann und Theater bisher nicht mit Spaß verbinden konnten. Von der norddeutschen Kaufmannssaga geht es weiter in den ehemaligen Kaufhof in der Innenstadt: Das Gebäude steht leer und wird deswegen von den Hamburger Kopfhörer-Performance-Spezialisten LIGNA mit einer Neuproduktion für drei Wochen bespielt: DIE GESPENSTER DES KONSUMISMUS ist eine performative Reise durch einen Teil der Hamburger Geschichte und in die Zukunft der Innenstädte. Die sind in Zeiten des Social Distancing eh zu Problemzonen und Ansteckungsherden geworden, so wie überhaupt Nähe, Togetherness und Zusammenkommen, also das, was unsere Gesellschaft konstituiert. In THIS IS NOT NORMAL bringt deswegen Sommerfestival-Legende Juan Dominguez zusammen mit Arantxa Martínez zwischenmenschliche Nähe in die Innenstadt zurück, als Performance mit lebendigen Skulpturen an öffentlichen Plätzen. Und als eins von insgesamt 14 Außenprojekten, mit denen wir die Stadt in diesem Kultursommer bespielen: Die Geheimagentur zeigt mit der HAMBURGER SEEFRAUEN*PARADE eine überfällige feministische Perspektive auf die Seefahrt; Yolanda Gutiérrez und Künstler*innen aus ehemaligen deutschen Kolonien intervenieren am Bismarck-Denkmal auf St. Pauli; Rimini Protokoll machen mit künstlerischen Audio-Walks die Stadt zur Bühne; A Wall is a Screen projizieren Tanz-Kurzfilme an Hausfassaden in ganz Hamburg; und Abhishek Thapar gibt unsichtbaren, exilierten Küchenhelfer*innen aus der Hamburger Gastronomie eine Stimme und ein Gesicht: BELASTBAR UND SAUBER, DRINGEND GESUCHT wird im Rahmen des EXIL HEUTE Programms mit der Körber-Stiftung realisiert. Und macht anhand einer lokalen Situation eine globale Perspektive auf. Und da ist sie wieder, die Pandemie, denn selten ist uns der Zusammenhang zwischen lokalen Einschränkungen und globaler Bewegung so deutlich gemacht worden wie beim Infektionsgeschehen – und beim Klimawandel. Am Ende des Tages sind wir eine Weltgemeinschaft und was gerade im Amazonas-Gebiet passiert, betrifft auch uns. Davon erzählt uns die brasilianische Künstlerin Gabriela Carneiro da Cunha mit ihrem techno-schamanistischen Stück ALTAMIRA 2042. Darin bringt sie einen bedrohten Fluss aus dem brasilianischen Regenwald zum Sprechen und entwirft eine feministische Zukunftsvision für das Jahr 2042.
Die Zukunft, noch so ein Pandemie-Thema, nicht nur wegen des hypothetischen Verlaufs von Infektionskurven und Intensivbettenkapazitäten, sondern auch wegen der Digitalisierung von Leben, Denken, Arbeit, allem. Ein Thema, zu dem ständig alles von allen gesagt wird, das aber unter einer Männerlast leidet, die ja oft zur Marginalisierung von interessanteren Positionen führt. Deswegen machen wir unsere opulente Konferenz THE FUTURE OF CODE POLITICS, in der sich feministische Programmiererinnen und Gruppen wie Indigenous AI, die von Google gefeuerte KI Spezialistin Timnit Gebru oder die Africanfuturism-Autorin Nnedi Okorafor Gedanken zu ökologischen Folgen und der Dekolonisierung von Technologien machen. Und weil wir ja semi-seröse Kurator*innen sind, gibt es auch ein paar passende künstlerische Arbeiten zur komplexen Thematik Digitalisierung. Aber, keine Angst, kein Online-Theater, sondern zum Beispiel Susanne Kennedy, Schrecken des klassischen Schauspieltheaters und zukunftsweisende Theaterkünstlerin, die in ihrem Virtual Reality-Stück I AM (VR) die Besucher*innen auf ein digitales Orakel von Delphi treffen lässt. Oder einen internationalen Hackathon des Bildenden Künstlers Christoph Faulhaber. Und von der Hamburger Künstlerin Kotkta Gudmon gibt es eine begehbare Installation im Hafen und eine aufwendige Virtual Reality-Inszenierung in der Hauptkirche St. Katharinen. Apropos Kirche (ja, ja, schlechter Übergang): Licht am Ende des Tunnels gibt’s musikalisch nicht nur mit Mozart, sondern auch mit zwei Konzerten in der St. Gertrud Kirche bei der Mundsburg. Zuerst mit Graindelavoix, dem avantgardistischen Vokalensemble für Alte Musik aus Antwerpen: Besser und mit größerem Mitreißpotenzial als in deren Konzert-Inszenierung THE LIBERATION OF THE GOTHIC werden Sie polyphone Vokalmusik der Renaissance nicht mehr hören. Und mit Michael Schönheit kommt außerdem der Leipziger Gewandhausorganist höchstpersönlich nach Hamburg, um mit dem jungen Indie Musik-Künstler P.A. Hülsenbeck die Orgel aus dem Geist der Improvisation für die Gegenwart zu entdecken.
So, das waren jetzt 9143 Zeichen, aber es ist auch das bis dato umfangreichste Sommerfestival mit allein 5 Weltpremieren von Bühnen-Stücken. Ein Festival mit langem Vorwort und Produktionen die zeigen, dass Kunst nur aus der Gegenwart heraus gedacht auch für die Zukunft interessant ist. Dafür steht ebenso das letzte Beispiel aus der großen Halle K6: Vier Arbeiten von stilprägenden Choreografinnen an einem Abend für und vom Ballet national de Marseille, seit neuestem unter der Leitung der Sommerfestival-Heroes (LA)HORDE: Lucinda Childs, die Ikone des Postmodern Dance, trifft auf die formstrenge Expressionistin Tânia Carvalho, trifft auf Frankreichs Ballroom-Größe Lasseindra Ninja, trifft auf die Belfaster Sozialrealistin und letztjährige Sommerfestival-Highlighterin Oona Doherty.
Und zum Schluss bräuchten wir nochmal eine vierstellige Wortzahl, um die größte und bunteste Festival-Spielstätte vorzustellen: den AVANT-GARTEN, Hamburgs schönsten Kunstfreizeitpark, von JASCHA&FRANZ gestaltet, dauerbespielt von der Festival-Haus-und Hofgruppe JAJAJA, bespeist vom Kampnagel Haus-und-Herz-Restaurant Peacetanbul. Auf mehreren Bühnen gibt es hier ein täglich wechselndes, ausuferndes Programm u.a. mit Konzerten von Album-des-Jahres-Titel-Vorabträgerinnen wie Sophia Kennedy oder Fritzi Ernst, Buchvorstellungen von Johanna Adorján und Juliane Liebert, dem Klassiker-Format SOLICASINO vom Migrantpolitan oder mehreren Auftritten vom kanadischen Festival-Evergreen Josh „Socalled“ Dolgin. Und am Wochenende ist übrigens nachmittags immer Avantgarde-Kinderprogramm, aber mit Spaß.
Toll, Sie haben die 1671 Wörter bis hier gelesen und sind jetzt genauso verwirrt wie vorher. Dann bitte einfach nochmal mit Schweizer Gelassenheit an Robert Walser denken, der laut Thom Luz bei einem Spaziergang durch Hamburg gesagt haben soll: „Das Theater soll die allzu Verwirrten beruhigen und die allzu Beruhigten verwirren.“ Dass es Menschen und Institutionen gibt, die das genauso sehen und dieses Festival durch ideelle und finanzielle Förderungen unterstützen, ist ein großes Glück und der Grund, warum wir dieses Festival überhaupt so machen können. Danke!
Und Ihr Gäste, die Ihr bis hier gelesen habt (oder geschickt ans Text-Ende gesprungen seid): Ihr seid eh die Besten und wir freuen uns auf Euch gleich im Garten,
András Siebold & das Sommerfestival-Team
Pressestimmen zur Festival-Programmankündigung:
welt.de
Hamburger Abendblatt
Neue Osnabrücker Zeitung noz.de