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Editorial Internationales Sommerfestival 2024

während die Welt auf Kriegsherde, in Justizsäle, Universitäten und wie immer Fußballstadien schaut, wenden wir uns der Liebe zu. »Love takes off the masks that we fear we cannot live without and know we cannot live within.« So beschrieb James Baldwin 1963 die demaskierende Wirkung der Liebe, die uns verletzlich macht, aber eben auch erst empfänglich für die Welt. Nur wer bereit ist, sich selbst infrage zu stellen, öffnet sich anderen Menschen, ist überhaupt empathie- und dialogfähig und kann wachsen. Das wird besonders deutlich in der Verrohung des öffentlichen Raums, wo der Dialog zunehmend dem Ressentiment weicht, also der Delegitimierung und oft auch Dehumanisierung des Gegenübers. Die Rechte kann sich dabei zunehmend ins eigene Fäustchen lachen, Kulturinstitutionen dagegen sind zum Handeln aufgefordert. Denn »dem Hass begegnen lässt sich nur durch das, was dem Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel« schreibt Carolin Emcke.

Das beste Tool zur Sensibilisierung und Weltempfänglichkeit ist natürlich das Sommerfestivalprogramm. Das ist dieses Jahr so liebevoll und aufregend wie selten zuvor, stellt den Dialog vielfach ins Zentrum und wird in diesem Vorwort wie immer in bester Servicementalität mit bunten Adjektiven im Schnelldurchlauf präsentiert. Eröffnet wird das Festival fundamental von einer, die Tanz-Avantgarde-Geschichte seit 60 Jahren prägenden, Jahrhundertchoreografin: LUCINDA CHILDS kommt mit ihrer Company mehrere Wochen nach Hamburg, um hier gleich vier Stücke uraufzuführen. Diese entstehen als künstlerische Zusammenarbeiten mit dem Minimal Music Pionier PHILIP GLASS, der Oscar prämierten Komponistin HILDUR GUÐNADÓTTIR und dem Bildenden Künstler ANRI SALA, der außerdem mit einer großen Installation in der Vorhalle auf Kampnagel und mit weiteren Arbeiten in der Ausstellung UNTRANQUIL NOW in der Hamburger Kunsthalle präsent sein wird. Dort werden auch Videoarbeiten von Lucinda Childs zu sehen sein – und eine spektakuläre Außen-Performance von TRISHA BROWN, mit der Childs einst gemeinsam im New Yorker Judson Dance Theater den Tanz revolutionierte: MAN WALKING DOWN THE SIDE OF A BUILDING ist genau das, was der Name verspricht und findet an zwei Tagen am ersten Festivalwochenende statt. Mehr Arbeiten in Kooperation mit der Kunsthalle zeigen wir über das ganze Festival verteilt, darunter eine dreiwöchige Performance in der Innenstadt von ANCA MUNTEANU RIMNIC, einen Filmabend im Metropolis Kino mit TACITA DEAN und in der Kunsthalle die Performance GHOST PARTY 1.

Die Intensivbeziehung zwischen Sommerfestival und Stadt (und Bildender Kunst und Performance) festigt dann auch der brillante französische Choreograf SAÏDO LEHLOUH: Er kuratiert einen ganztägigen Performance-Parcours durch alle sechs großen Ausstellungshäuser, die als Hamburger Kunstmeile zusammengeschlossen sind. Vom Bucerius Kunstforum bis zu den Deichtorhallen werden Arbeiten zu sehen sein von Choreograf*innen, die an den Tagen davor noch selbst auf der großen Kampnagel Bühne k6 tanzen: Dort läuft in der zweiten Festivalwoche Lehlous kosmisch kreisendes Tanzkunstwerk TÉMOIN. In der letzten Festivalwoche besiegelt dann eine zweite Uraufführung in der Halle k6 den Status des Sommerfestivals (und der ehemaligen Musicalstadt Hamburg) als Tanzzentrale der Avantgarde: Der New Yorker Choreograf KYLE ABRAHAM aktiviert mit zwölf Tänzer*innen unser kulturelles Gedächtnis, indem er zu 80er Pophits einen energetischen Abend choreografiert, der von der ganzen jüngeren Tanzgeschichte geprägt ist – von LUCINDA CHILDS bis zum urbanen Streetdance.

Für die Popularisierung von Tanz aus einem urbanen Kontext steht herausragend auch der britische Choreograf IVAN MICHAEL BLACKSTOCK, der für Beyoncé Musikvideos choreografierte und für sein Stück TRAPLORD über Schwarze Männlichkeit mit dem Olivier Award ausgezeichnet wurde. In der Halle nebenan greifen derweil der Sommerfestival Star JEREMY NEDD und die südafrikanische Gruppe IMPILO MAPANTSULA nach den Sternen und zeigen die afrofuturistische Dimension von Tanz und kosmischer Jazz Musik, u.a. von Alice Coltrane. Die war sich sicher: »The entire universe is created with Love by Love and in Love«. Dass man erstmal lernen muss, sich selbst zu lieben, und dass Musik und Tanz dabei Tools zur Welteroberung sein können, beweist eindrucksvoll die Hamburger »Hood-Cinderella« ACE TEE in UPSIDE DOWN, dem ersten Bühnenstück der Hamburger Rapperin, Producerin und Stil-Ikone.

Jeweils im Anschluss an ihre Musik-Performance haben wir passende Club-Abende kuratiert – als Auftakt für drei Wochen Sommerfestival-Clubkultur in Zusammenarbeit mit Party-Kollektiven von Hamburg bis New York. Dazu kommt ein internationales Konzertprogramm, das Popkultur als wichtigste Energiequelle für zeitgenössische Künste ausweist: Während in der Elbphilharmonie CAT POWER Musikgeschichte und Bob Dylan überschreibt und Superstar SAMPHA im 360 Grad Setting spielt, reicht das Programm im Club von der legendären Post Punk Band A CERTAIN RATIO bis zum Agit-Pop-Kollektiv BONAPARTE und der brillanten Folk Sängerin ANNAHSTASIA. Die sagt passend zum Vorwort: »Folk music is made for collectivism, for community and for love.« Da Liebe ja oft physischen Kontakt einschließt, können sich Gäste in der Performance TOUCHING YOU dann auch körperlich dem Theater hingeben. Oder sich von der ganzen Bild- und Wortmacht dieses Mediums berühren lassen, das, wenn es nicht gerade Schulstoffe wieder aufwärmt, tiefenbohrende Einblicke in politische und gesellschaftliche Realitäten geben kann, also große Kunst ist. Die kommt bei uns von der aktuellen Ibsen-Preisträgerin LOLA ARIAS, die mit einem Team aus ehemaligen argentinischen Insass*innen das Leben und Lieben hinter Gefängnismauern zeigt; und vom ungarischen Regiestar KORNÉL MUNDRUCZÓ und seiner freien Gruppe, das Proton Theater, die in die ungarische (und europäische) Realität aus Antisemitismus und Queerfeindlichkeit zoomen.

Geübte Sommerfestivalfans wissen: Die radikale (und unbedingt notwendige) Ausweitung der Theaterschmerzgrenze funktioniert am besten (und unterhaltsamsten) durch feministische Performancekunst. Deswegen gibt es einen schönen Bühnenexzess von KATY BAIRD (mit dem theaterübergriffigen Briten KIM NOBLE als Ko-Regisseur), und eine Uraufführung vom neuen Star am feministischen Performancekunsthimmel, TERESA VITTUCCI. Sie geht einen Pakt mit dem Teufel als feministischem Befreiungskomplizen ein. Noch mehr Futter für den Sommerfestival-Fan gibt es beim Wiedersehen mit den sprechenden Reiskochern und der ferngesteuerten Kröte des südkoreanischen Theatermachers JAHA KOO: Die treffen in seinem neuen poetischen Objekttheater HARIBO KIMCHI auf einen Youtuber und einen Aal. Und für alle, die zu oft vom Theater enttäuscht wurden (oder ihre Liebesbeziehung dazu festigen wollen), gibt es ein neues Dreistundenspektakel der Wiener Volkstheaterguerilla NESTERVAL in einer leerstehenden Schule auf St. Pauli über Faust und Schwangerschaftsabbruch.

Was für das Liebemachen gilt, gilt auch fürs Sommerfestival: Es muss auch Spaß machen. Deswegen kommt mit AYELEN PAROLIN zum Schluss ein hinterlistiger Tanz-Streich zur Musik von »An der schönen blauen Donau«, und wir schaffen Wohlfühlatmosphäre für alle in unserem großen Festival Avant-Garten am schönen braun-grünen Osterbekkanal. Dort werden die Festival-Klassiker JAJAJA mit ihren Kopfhörer-Performances für ein glückliches Glühwürmchen-Meer sorgen (und diesmal zusätzlich noch eine Performance-Tour durch die Stadt zeigen, das MIGRANTPOLITAN öffnet drei Wochen mit vollem Programm für lange Nächte die Tür, das PEACETANBUL versorgt Herzen und Mägen, und mit SUVIR SARAN ist ein indischer Star und Sternekoch mit einem Pop-up Performance Restaurant zu Gast im Festival-Weltengetümmel. Auf der Waldbühne gibt es täglich Konzerte – und wir werden hier, gerade im Angesicht der öffentlichen Diskursvergiftung, trotzdem sprechen: Im kostenlosen Literatur- und Gesprächsprogramm WALLAH KRISE! kommen prägende Persönlichkeiten der Gegenwart von SASHA MARIANNA SALZMANN bis ALICE HASTERS zu Wort, und The One and Only DR. BITCH RAY lädt jede Woche gedankenfeuernde Menschen zum Gespräch ein.

Unser Dank (und unsere Liebe) gilt allen, die uns großzügig unterstützt haben und dazu beitragen, dass aus drei Wochen Festival ein Kraftwerk sozialer und künstlerischer Energie für die Welt von morgen wird.

Bis gleich im Festival Avant-Garten,

András Siebold (mit Corinna Humuza und dem Sommerfestival-Team)